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Arno Böhler

Art Brut: Die philosophische Perspektive

Gilles Deleuze und Felix Guattari analysieren in Anti-Ödipus (1972; dt. 1977) die Strukturen jener verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, die für die unterschwellige Produktion unserer Wünsche verantwortlich zeichnet: Wunschmaschinen, die ein wildes Denken fabrizieren, das assoziativ-bildhaft verfährt, indem es hybride Verbindungen zwischen Farben, Formen, Bildern, zwischen Gefühlen und Gedanken, anorganischem und organischem Leben etc. herstellt. Gerade so, als würde die Lust der Wunschmaschinen primär im Verkuppeln von allem mit jedem beruhen.

 Unaufhörlich fügt die Libidofabrik des Unbewussten Sachverhalten neue Verknüpfungen hinzu, erfindet neue Schnittstellen und Anschlussmöglichkeiten zwischen Dingen, als ob es ihr um ein endloses Schaffen, um Produktivität als solche ginge. „,Die Regel, immerfort das Produzieren zu produzieren, dem Produkt Produzieren aufzusetzen, definiert den Charakter der Wunschmaschinen“ (Deleuze-Guattari 1977, S.13). Eine Wunschfabrik kennt keinen Endpunkt und keine Pause. Sie ist rastlos tätig. Unaufhörlich. Stets liegen unsere Begehrensströme auf der Lauer, um sich mit diesem oder jenem Objekt assoziativ zu verbinden. Das Objekt der Begierde und der Strom des Begehrens gehören im Wünschen daher untrennbar zusammen. „,Die Cahiers de l’art brut sind ein schlagender Beweis dafür“ (Deleuze-Guattari 1977, S.12).

Art Brut demonstriert für Deleuze und Guattari, dass es eine Kunst gibt, in der die Triebkräfte des ES nahezu ungefiltert zu Tage treten. Hier werden Affekt-Bilder erzeugt, die einem ungezügelten Denken entspringen; einer Kunst des ES, die oft serielle Züge aufweist, weil uns die Libido stets „,und“, „,und dann“ sagen heißt. „,Die produktive Synthese, Produktion der Produktion, besitzt konnektive Form: ‚und‘, ‚und dann‘“ (Deleuze-Guattari 1977, S.11). Was die Bilder und Aufzeichnungen von Art Brut zur Schau stellen, ist also das Begehren selbst, das sich in passiven, konnektiven Synthesen zeitigt – auto-matos, wie die antiken Philosophen sagten: wie von selbst, untergründig, maschinell, der Kontrolle und Steuerung durch unser personales Ich weitgehend entzogen. „,You are innocent when you dream,“ singt Tom Waits im gleichnamigen Song.

Eine Kunst des ES wie Art Brut ist für Deleuze und Guattari notwendigerweise Outsiderkunst, und zwar in dem präzisen Sinne, dass das Ich in ihr gerade nicht mehr Herr im eigenen Haus, sondern Medium anonymer Triebkräfte ist, von denen das kunstschaffende Individuum heimgesucht wird, vor allem in den Souterrains seiner Leiblichkeit. In jenen Regionen unseres leiblichen In-der-Welt-seins also, in denen man den Kräften eines quasi unorganischen Lebens ausgesetzt ist – dem Verdauungsapparat, der Atmung, den elementaren Kräften Luft, Wasser, Erde, Feuer und Licht, aus denen wir alle bestehen.

In diesen, man möchte fast sagen, subtropischen Zonen unserer Leiblichkeit regiert kein willensgesteuertes, strategisch handelndes Ich-Zentrum. Hier stoßen wir vielmehr auf jenes transpersonale Leben der Immanenz, das alle Körper elektrifiziert, indem es sie weltweit in einen einzigen Lebensstrom einbezieht, der alle, und alles, unterschwellig miteinander verbindet. Gerade nicht, um dort, wo ES ist, ein verantwortungsvolles, personal gesteuertes Ich entstehen zu lassen, sondern um Zeugnis von jenem delirierenden, aus den Fugen und Furchen tretenden Leben (de-lirare) abzulegen, das sich in der Fabrik des Unbewussten eben auto-matos, wie von selbst vollzieht.

In Jenseits von Gut und Böse wurde Nietzsche schon im 19. Jahrhundert nicht müde, auf den neuzeitlichen „,Aberglauben der Logiker“ hinzuweisen, die bislang den einfachen Tatbestand übersehen hätten, „,dass ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ sei die Bedingung des Prädikats ‚denke‘“ (Nietzsche 1886, S. 31).

Vermutlich liegt hier der sachliche Grund, warum Art Brut oft einen spiritistischen, medialen Charakter aufweist. Man ist nicht selbst die immanente Ursache der Vorstellungen, die einem widerfahren, wenn man denkt, fühlt, etwas wünscht oder begehrt. Man taucht vielmehr sensorisch in subterrane Lebensströme ein, von denen man ergriffen wird, wenn man etwas intensiv empfindet, denkt, oder begehrt. So erzählt man sich von Robert Gie, einem exzellenten Zeichner paranoischer Elektromaschinen, die folgende Geschichte: „‚Es scheint wohl, dass er [Robert Gie] am Ende, da er sich der Strömungen, die ihn quälten, nicht mehr entledigen konnte, heftig ihre Partei ergriff und, vollkommen erregt, sich daran machte, sie in ihrem totalen Siege, in ihrem Triumph abzubilden‘.“ (L’art brut, Nr. 3, S 63. Zitiert nach Deleuze-Guattari 1977, S. 25).

Offenkundig sind die elektrisierenden Strömungen, von denen Robert Gie ergriffen wird, indem er sie am eigenen Leib zur Empfindung bringt, keine Affektströme der Transzendenz, sondern der Immanenz. Transzendiert sich das selbstbewusste Subjekt in ihnen doch nicht in Richtung auf himmlische Höhen, sondern in Richtung auf die irdische Tiefe, von der Art Brut KünstlerInnen durchflutet werden, um sie, diese Intensitätsfelder, in ein Bild zu bringen. In Art Brut gibt es daher kein die Wunschproduktion herbeiführendes Subjekt, das sich über oder außerhalb fabulierender Wunschmaschinen befinden würde, sondern nur an einer Wunschproduktion beteiligte, mit ihnen verkuppelte, an eine Wunschfabrikation angeschlossene Subjekte. „,Unaufhörlich bewirkt der Wunsch die Verkoppelung der stetigen Ströme mit den wesentlich fragmentarischen und fragmentierten Partialobjekten.“ (Deleuze-Guattari 1977, S. 11). Wünschen und Denken, Wünschen und Wollen, aber auch Wünschen und Verdauen, Wünschen und Lieben, Wünschen und Sinnen. Nichts vermag sich der konnektiven Synthese zu entziehen, die in der Wunschproduktion am Werk ist.

Art Brut ist eine Outsiderkunst, weil in ihr der Ausnahmezustand der eigenen subjektiven Verfassung zur Regel geworden ist. Vielleicht trifft sich Art Brut gerade hier mit der gesellschaftlichen Realität, der wir heute global ausgesetzt sind. Die Prozesse der Globalisierung entgleiten weitgehend der Steuerung und Kontrolle der handelnden Personen. Die Würde des globalisierten Menschen scheint weniger in der Freiheit des Willens, als in der weltweiten Ausgesetztheit, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit des Menschen zu liegen, in der er global agierenden Kräften ausgesetzt ist, die sich seiner persönlichen Kontrolle weitgehend entziehen.

Während wir im moralischen Bild des Denkens also jener Figur des Menschen begegnen, dem wir volle Zurechnungsfähigkeit, und daher auch moralische Verantwortlichkeit zusprechen, begegnen wir bei Art Brut-KünstlerInnen oft einer Figur von Menschsein und Humanität, die das nackte Leben verkörpert. Eine Lebensform, in der das Leben der handelnden Personen ihnen ständig entgleitet und damit jenem Ausnahmezustand zustrebt, in dem jener Nerv bloßgelegt wird, in dem ein Körper nur noch um den nackten Selbsterhalt seines In-der-Welt-seins kämpft. Im Unterschied zum moralischen Bild des Denkens, handelt es sich bei einer Ethik des ES – wie schon in der Ethik des großen jüdischen Denkers Baruch de Spinoza – um eine Ethik der Körper. Körper, nicht als in sich abgeschlossene Dinge, sondern als Verdichtungszentren weltweiter Felder, von denen sie nicht nur umgeben, sondern hautnah angegangen und betroffen sind: Als wunde, verletzliche, dem Weltweiten einer Welt ausgesetzte Körper.

Wenn Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse schreibt, dass sein neues Bild des Denkens davon ausgeht, dass das Denken den Instinkten nicht entgegensetzt sei, da das bewusste Denken meistens „,durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen“ (Nietzsche 1886, S.17) werde, dann bringt er an dieser Stelle nur zur Sprache, was jedes wilde Denken, was Art Brut insgesamt charakterisiert: Man denkt in und aus Intensitätserfahrungen heraus. Man deliriert. Taucht sensorisch in elektrifizierende Intensitätsfelder ein, von denen man ergriffen, durchflutet und durchströmt wird. In genau diesem präzisen Sinne ist Art Brut authentisch. Nicht im Sinne eines authentischen Ichs, das in seinen Bildern das nackte Leben entblößt, sondern im Sinne einer intensiven Erfahrung jenes transpersonalen ES, das uns alle weltweit durchströmt, indem es sich, von Zeit zu Zeit, und von Mal zu Mal, spürbar macht und künstlerisch ins Bild bringt. Darum handelt es sich bei Art Brut um keine ödipale, sondern eine kosmische Kunst.

 

Arno Böhler

Arno Böhler wurde 1963 in Dornbirn in Vorarlberg geboren. Er studierte Philosophie an der Universität Wien und an der Universität Bangalore in Indien und absolvierte sein Studium schließlich mit Auszeichnung. Nach Forschungsaufenthalten an der Universität Heidelberg, sowie einem Schrödinger Auslandsstipendium an der New York University und der Universität Princeton habilitierte er sich 2002 am philosophischen Institut der Universität Wien, an dem er als Universitätsdozent seit nunmehr 20 Jahren lehrt und forscht. Seine Forschungsschwerpunkte sind Interkulturelle Philosophie, Geschichte der Philosophie und Ästhetik. Im Rahmen von drei Forschungsprojekten, die vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert wurden, hat er gemeinsam mit seiner Frau Susanne Valerie Granzer, Schauspielerin und Professorin für Rollenunterricht am Max Reinhardt Seminar, das Forschungsfestival Philosophy On Stage und das Forschungsformat Arts-based-Philosophy ins Leben gerufen, das inzwischen international als role model für kunst-basiertes- Forschen (artistic research) fungiert. In diesem Sinne war es nur konsequent, dass er mit Susanne Valerie Granzer 2013 ein Residenzprogramm für arts-basedresearch// arts-based-philosophy in dem von ihnen mitbegründeten Forschungszentrum BASE art philosophy ecology in Tamil Nadu, Südindien errichtet hat. Derzeit leitet er das Forschungsprojekt KünstlerphilosophInnen. Philosophie ALS künstlerische Forschung (AR275-G21) an der Universität für angewandte Kunst, das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert wird. Gastprofessuren an der Universität Wien, der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, der Hochschule der Künste in Bremen und der Universität für angewandte Kunst Wien.

© Hannah Rieger
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